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Saarnonymus

Das wertvollste Gut im Leben ist Zeit, sagt Seneca

Aktualisiert: 9. März 2021

Wie soll der Mensch richtig leben, wenn er weiß, dass sein Leben kurz ist? Diese grundlegende Frage der Lebenskunst beantwortet der antike Philosoph und Dichter LuciusAnnaeus Seneca(4 v.Chr. bis 65 n.Chr.) in seiner berühmten Schrift De brevitate vitae mit Maximen und Einsichten, die auch heute nichts von ihrer Gültigkeit eingebüßt haben.

Von I, Calidius, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=2456052

Wer einmal gelernt hat, sein Leben «nach vorne» zu leben und jeden einzelnen Tag so zu nutzen, als wäre es der letzte, wer mit seiner Zeit achtsam umgeht und dieses kostbare Gut nicht für oberflächliche Ziele verschwendet, für den ist die Lebenszeit gar nicht so furchtbar kurz, sondern «lang genug». Wenn wir das Wesen der Zeit verstanden haben, so lehrt uns der Stoiker Seneca, dann haben wir den wichtigsten Schritt zu einer gelingenden Lebensführung getan.


Hier nun der eigentlichen Worte dieses großen Philosophen:

Hier ein Ausschnitt transkribiert:


Die meisten Menschen, mein Paulinus, klagen über die Missgunst der Natur: Nur für eine kurze Spanne Zeit werden wir geboren und diese uns zugestandene Frist läuft so rasch, ja rasend schnell ab, dass das Leben die Menschen mit nur wenigen Ausnahmen verlässt, während sie sich gerade im Leben einrichten. Und über diesen allgemeinem Missstand haben nicht nur - wie man meinen könnte - die große Masse und das unvernünftige Volk lamentiert, auch bei berühmten Männern hat diese Empfindung Klagen hervorgerufen.

Daher rührt der bekannte Stoßseufzer des berühmtesten aller Ärzte: "Kurz ist das Leben, lang die Kunst."

Aber nein, wir haben gar keine zu geringe Zeitspanne, sondern wir vergeuden viel davon.

Daher auch der Hader des Aristoteles mit der Natur, ein Streit, der doch gar nicht zu einem Philosophen passt. So viel an Lebenszeit hat die Natur den Tieren gegönnt, dass sie fünf oder zehn Lebensalter verbringen dürfen, während dem Menschen - obwohl er zu vielen und großen Aufgaben geschaffen wurde - ihm eine so viel engere Grenze gezogen ist. Aber nein, wir haben gar keine zu geringe Zeitspanne, sondern wir vergeuden viel davon.

Wir haben kein kurzes Leben empfangen, sondern es kurz gemacht.

Lange genug ist das Leben und reichlich bemessen, auch für die allergrößten Unternehmungen, wenn es nur insgesamt gut angelegt wird. Doch sobald es in Verschwendung und Oberflächlichkeit zerrinnt, sobald es für keinen guten Zweck verwendet wird, dann spüren wir erst unter dem Druck der letzten Not das Leben, dessen Vergehen wir gar nicht merkten, ist vergangen. So ist es nun einmal. Wir haben kein kurzes Leben empfangen, sondern es kurz gemacht. Keinen Mangel an Lebenszeit haben wir, sondern gehen verschwenderisch damit um.

Den einen hält unersättliche Habgier gefangen, den anderen seine geschäftige Betriebsamkeit mit völlig überflüssiger Plackerei, der wieder ertrinkt im Wein, der andere dämmert im Nichtstun dahin.

Es ist wie mit reichen und königlichen Schätzen. Sobald sie an einen schlechten Herrn kommen, sind sie im Nu vergeudet, während ein auch noch so bescheidenes Vermögen - wenn es einem tüchtigen Verwalter anvertraut ist, durch Nutzung wächst. So bietet unsere Lebenszeit für den, der sie gut einteilt, genügend Raum.

Wozu beklagen wir uns über die Natur? Sie hat sich doch gütig gezeigt. Das Leben ist lang, wenn du es zu nutzen verstehst. Doch den einen hält unersättliche Habgier gefangen, den anderen seine geschäftige Betriebsamkeit mit völlig überflüssiger Plackerei, der wieder ertrinkt im Wein, der andere dämmert im Nichtstun dahin. Wieder einen anderen zermürbt sein Ehrgeiz, mit dem er sich stets von der Meinung anderer abhängig macht. Die Nächsten führt die rastlose Begierde, Geschäfte zu machen durch alle Länder und alle Meere in der Hoffnung auf Profit. Manche treibt die Begeisterung für den Kriegsdienst, ständig sind sie darauf auf, andere in Gefahr zu bringen oder sie bangen wegen Gefahren für sich selbst. Wieder andere reiben sich auf in freiwilliger Knechtschaft im Dienst für undankbare Herren. Viele hat das Streben nach fremden Glück oder die Sorge um das eigene völlig vereinnahmt.

Die meisten aber, die kein festes Ziel verfolgen, hat ihre Haltlosigkeit, die sie schwankend, unstet und mit sich selbst zerfallen macht, von einem Unternehmen zum anderen getrieben. Manche finden an nichts Gefallen, worauf sie ihren Kurs richten könnten. Vielmehr werden sie matt und schläfrig von ihrem Schicksal eingeholt.

Nur ein kleiner Teil des Lebens ist es, den wir leben. Die gesamte, übrige Spanne ist nicht Leben, sondern Zeit. [...] Niemals steht es ihnen frei, zu sich selbst zu kommen.

Daher kann ich nicht an der Wahrheit dessen zweifeln, was ein großer Dichter im Ton eines Orakels verkündet hat: Nur ein kleiner Teil des Lebens ist es, den wir leben. Die gesamte, übrige Spanne ist nicht Leben, sondern Zeit. Von allen Seiten bedrängen und umlagern die Laster die Menschen und lassen es nicht zu, dass sie sich wieder aufrichten, oder die Augen zum Anblick der Wahrheit erheben. Vielmehr drücken sie die Menschen in die Tiefe und halten sie an die Leidenschaft gefesselt. Niemals steht es ihnen frei, zu sich selbst zu kommen. Wird ihnen einmal zufällig Ruhe zuteil, werden sie doch wie auf hoher See, wo auch nach dem Sturm noch Wellenbewegung herrscht, hin und her geworfen und niemals haben sie vor ihren eigenen Begierden Ruhe.

Glaubst du, ich spreche von denen Menschen, deren misslicher Zustand jedem klar ist? Schau dir aber diejenigen an, zu deren Glück und Erfolg man sich herbei-drängt. Sie ersticken geradezu an ihren Gütern. Für wie viele ist der Reichtum eine Bürde? Wie vielen saugt ihre Begabung als Redner geradezu das Mark aus, dass sie sich tagtäglich bemüht fühlen, ihr Talent unter Beweis zu stellen. Wie viele sind blass und bleich von ihren pausenlosen Vergnügungstouren? Wie vielen lässt der Schwarm von Klienten, der sie umdrängt, kein bisschen Freiheit mehr?

Keiner aber ist für sich selbst da. Einer verschleist sich für den anderen. [...] Sich selbst gehört keiner.

Ja, nehm sie dir nur alle vor, vom niedrigsten bis zum höchsten. Der Eine braucht einen Rechtsanwalt, ein anderer ist zur Stelle, der ist angeklagt, der verteidigt ihn, ein dritter ist der Richter. Keiner aber ist für sich selbst da. Einer verschleist sich für den anderen. Frag nach denen, deren Namen man auswendig kennt. Du wirst sehen, sie unterscheiden sich nur dadurch, dass der ein Anhänger von jenem ist, der wieder von einem anderen. Sich selbst gehört keiner.

Völlig unsinnig ist daher die Entrüstung mancher Leute. Sie beklagen sich über die verächtliche Behandlung durch Höhergestellte, weil diese bei ihrer Visite keine Zeit für sie hatten. Da bringt es einer fertig, sich wegen der Überheblichkeit eines anderen zu beklagen, während er für sich selbst doch niemals Zeit hat. Der andere hat doch für, wer du auch seiest, immerhin einen Blick gehabt, wenn auch von oben herab. Er hat dir Gehör geschenkt, hat dich an seine Seite geholt und dabei hast es nie für Wert gehalten, dich selber anzuhören oder anzusehen. Daher hast du keinen Grund mit jemand anderem wegen solchen Gefälligkeiten abzurechnen. Als du sie nämlich erwiesen hast, ging es dir schließlich nicht darum, mit einem anderen zusammen zu sein. Du konntest nur nicht mit dir selbst zusammen sein.

Niemand findet sich, der sein Geld austeilen will. Sein Leben aber, an wie viele verteilt es ein jeder?

Wenn auch alle großen Geister, die jemals geglänzt haben, in diesem einen Punkt übereinstimmen, niemals werden sie sich genug wundern können über diese Verblendung des menschlichen Geistes. Ihre Landgüter lassen die Leute von niemand in Besitz nehmen und wenn der geringste Streit über den Grenzverlauf aufkommt, rennen sie nach Steinen und Waffen. In ihr eigenes Leben aber lassen sie andere eindringen. Ja, sie führen sogar die künftigen Mitbesitzer selbst ein. Niemand findet sich, der sein Geld austeilen will. Sein Leben aber, an wie viele verteilt es ein jeder? Knauserig sind sie, wenn es gilt, das ererbte Vermögen zusammenzuhalten. Steht aber die Zeit auf dem Spiel, dann sind sie die größten Verschwender bei dem, worin doch einzig und allein Geiz eine Tugend wäre.


Nehmen wir uns also einen aus dem Kreis der Älteren vor. Du bist, wie wir sehen, an die äußerste Grenze des Menschenlebens gekommen. 100 Jahre oder mehr hast du gar auf dem Buckel. Auf, zieh jetzt die Bilanz deines Lebens. Rechne aus, wie viel von deiner Zeit, dich dein Gläubiger gekostet hat, wie viel die Geliebte, wie viel dein Vorgesetzter, dein Klient dir entzogen hat, wie viel die Streitereinen mit der Gattin, die Bestrafung der Sklaven, und wie viel dein geschäftiges Herumrennen in der Stadt? Nimm noch die Krankheiten hinzu, die wir uns selbst eingebrockt haben und was ungenutzt brach liegen blieb. Du wirst sehen, die rechnung ergibt, du hattest weniger Jahre als dein Lebensalter ergibt.

Ruf dir ins Gedächtnis zurück, [...] wie wenige Tage so verlaufen sind, wie du es dir vorgenommen hattest, wann du überhaupt zu dir selbst gekommen bist, wann du einen ungekünzelten Gesichtsaus-druck hattest, wann du innerlich ohne Aufregung warst, was du in einer so langen Lebenszeit geleistet hast, wie viele andere Menschen dein Leben ausgeräubert haben, ohne dass du merktest, was du eingebüßt hast, wie teuer dich grundloser Kummer zu stehen kam, [...] wie wenig dir von deiner Zeit geblieben ist.

Ruf dir ins Gedächtnis zurück, wann du bei einem Entschluss fest geblieben bist, wie wenige Tage so verlaufen sind, wie du es dir vorgenommen hattest, wann du überhaupt zu dir selbst gekommen bist, wann du einen ungekünzelten Gesichts-ausdruck hattest, wann du innerlich ohne Aufregung warst, was du in einer so langen Lebenszeit geleistet hast, wie viele andere Menschen dein Leben ausge-räubert haben, ohne dass du merktest, was du eingebüßt hast, wie teuer dich grundloser Kummer zu stehen kam, törichte Freude, gierige Leidenschaft, schmeichlerische Unterhaltung, wie wenig dir von deiner Zeit geblieben ist.

Du wirst einsehen müssen, dass du unreif stirbst. Was ist nun aber Schuld daran? Ihr lebt so, als lebtet ihr ewig. Niemals kommt euch eure Hinfälligkeit in den Sinn. Nie achtet ihr darauf, wie viel Zeit schon vergangen ist, als ob ihr sie in Fülle und im Übermaß hättet, verschwendet ihr sie.

Alles fürchtet ihr wie Sterbliche, alles wollt ihr aber haben wie Unsterbliche.

Dabei ist doch vielleicht gerade der Tag, den ihr für irgendeinen Menschen oder irgendeine Sache dahinschenkt, der letzte Tag. Alles fürchtet ihr wie Sterbliche, alles wollt ihr aber haben wie Unsterbliche. Von sehr vielen wirst du hören können, von meinem 50. Lebensjahr will ich mich ins Privatleben zurückziehen, das 60. wird mich von allen Verpflichtungen entbinden. Doch wer bürgt dir schließlich dafür, dass du so lange lebst? Wer wird es gestatten, dass alles so verläuft, wie du es dir einteilst? Schämst du dich nicht, nur die kümmerlichen Reste deines Lebens für dich zu behalten und für sinnvolle geistige Beschäftigung nur die Zeit zu bestimmen, die für kein anderes Geschäft mehr tauzugt? Es ist doch reichlich spät, erst dann mit dem Leben zu beginnen, wenn man es schon bald beenden muss. Und wie unvernünftig ist es, seine Sterblichkeit so weit zu vergessen, dass

man gute Vorsätze auf das 50. und 60. Lebensjahr verschiebt und erst in einem Alter zu leben beginnen will, dass nur wenige erreichen?

Beide Seiten sehen auf das, weswegen die Zeit beansprucht wird, auf die Zeit selber achtet keiner. Da wird sozusagen nichts gefordert und nichts gegeben. Mit der kostbarsten Sache der Welt geht man um wie mit einem Spielzeug.

Ich wundere mich immer wieder, wenn ich sehe, wie manche die Zeit anderer beanspruchen und wie die sich allzu bereitwillig darauf einlassen. Beide Seiten sehen auf das, weswegen die Zeit beansprucht wird, auf die Zeit selber achtet keiner. Da wird sozusagen nichts gefordert und nichts gegeben. Mit der kostbarsten Sache der Welt geht man um wie mit einem Spielzeug. Das entgeht ihnen aber, weil diese Sache etwas Unkörperliches ist. Weil man sie mit dem Auge nicht sehen kann, deshalb schätzt man sie so gering ein. Ja, sie hat praktisch überhaupt keinen Wert. Jahresgehälter und Geldspenden nehmen die Menschen nur zu gerne an und dafür geben sie ihre Arbeitskraft, Mühe und Hingabe drein. Aber niemand schätzt die Zeit. Viel zu gleichgültig

geht man mit ihr um, als hätte man sie umsonst. Aber schau dir nur die gleichen Leute an, wenn sie krank sind, wenn die Todesgefahr näher rückt, da fallen sie den Ärzten zu Füßen. Oder wenn sie vor dem Todesurteil des Arztes beben. Alles was haben, wollen sie dann gerne hingeben, nur um am Leben zu bleiben. Was für Widersprüche in ihren Gefühlen! Könnte man so wie die Zahl der vergangenen Jahre auch die der künftigen bei jedem bestimmen, wie würden dann diejenigen, die nur noch wenige übrig sehen, vor Angst zittern. Wie sparsam würden sie mit ihnen umgehen?

Sie gebrauchen ja die Redensart, sie würden denen, die ihnen die liebsten sind, einen Teil ihrer Jahre schenken. Und so schenken sie, ohne sich dabei etwas zu denken. Sie schenken, aber in einer Weise, dass die anderen keinen Zugewinn haben, sie selbst jedoch einen Verlust. Wovon sie da etwas verlieren, wissen sie nicht. Folglich erscheint ihnen die Einbuße erträglich, da ihnen der Verlust verborgen bleibt.

Nun ist es aber leicht, eine auch geringe Menge einzuteilen, von der man weiß, wie viel es ist. Das aber muss man noch viel sorgfältiger hüten, von dem man nicht weiß, wann es zu Ende geht. Dennoch darf man nicht glauben, die Leute hätten gar keine Ahnung davon, wie kostbar die Sache ist. Sie gebrauchen ja die Redensart, sie würden denen, die ihnen die liebsten sind, einen Teil ihrer Jahre schenken. Und so schenken sie, ohne sich dabei etwas zu denken. Sie schenken, aber in einer Weise, dass die anderen keinen Zugewinn haben, sie selbst jedoch einen Verlust. Wovon sie da etwas verlieren, wissen sie nicht. Folglich erscheint ihnen die Einbuße erträglich, da ihnen der Verlust verborgen bleibt. Niemand wird dir deine Jahre wieder erstatten. Niemand wird dich dir selbst wieder geben. Das Leben wird dahingehen wie es begonnen hat. Es wird in seinem Lauf nicht umkehren, noch innehalten. Es wird kein Aufheben machen, nicht mahnend auf sein rasches Dahinweilen verweisen. Lautlos wird es dahinfließen; kein königlicher Befehl, keine Volksgunst wird es verlängern. So wie es seinen erst Tag begonnen hat, so wird es weiter laufen. Nirgends ein Abweichen, nirgends ein Aufenthalt. Was wird sein? Du bist beschäftigt. Das Leben aber eilt dahin. Unterdessen steht der Tod vor der Tür, für den du - ob du willst oder nicht - Zeit haben musst.



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